Wenn »das Leben« eine Episode ist – im Rahmen einer etwas umfangreicheren Weltgeschichte, deren himmlischer Erzähler ebenso stumm wie unverständlich zu sein scheint –, dann ist Irene Disches ein Episodenroman, genauer, ein Roman voller atemlos, sarkastisch, unbarmherzig-liebevoll erzählter Kurzgeschichten, die sich wie in einem Kaleidoskop (gibt’s die noch?) zu einem Gesamtbild bürgerlicher Familienkatastrophen fügen. Und immer sind sie auch komisch. Dreht man das Kaleidoskop ein wenig, ändert sich das Tableau: Zu sehen ist die Tragödie einer ebenso jüdischen wie katholischen Sippe aus dem Rheinland und aus Schlesien, deren Assimilationsbemühungen von deutschen Rasseämtern durchschaut werden. Gegrüßet seiest Du, Maria, die Du auch ein J im Reisepass hättest tragen müssen, ein paar Jahre nach Hitlers Machtergreifung.
Wackeln wir ein wenig mit dem Kaleidoskop, und schon erscheint ein anderes Bild: Das halb verrückte Ehepaar Rother flieht mit seiner Tochter Renate das viehische und geliebte Vaterland Schlesien und fasst Fuß in New Jersey (schon schlecht). Renate wird Ärztin wie ihr verbitterter Vater und heiratet einen unerträglichen Biochemiker und Mediziner namens Dische (ja, die Dichterin verzichtet auf Camouflage und gibt sich als prosaische Kannibalin von eigenem Fleisch und Blut zu erkennen), und Dr. Dische zeugt zwei Kinder: Irene und Carl. Der Dische-Test (eine bestimmte Diphenylamin-Reaktion), die biochemisch gebildeten Mediziner unter den ZEIT- Lesern wissen es, existiert immer noch und war, wie der deutsche Nobelpreisträger Günter Blobel zugibt, »nobelpreiswürdig«. Neben der Schriftstellerin Irene D. ist der Test das bleibende Vermächtnis des Emigranten. Nach der Lektüre dieses Romans wissen wir aber mehr über ihn.